Die Liebe findet in Debatten kaum Berücksichtigung

Emanuele Coccia weiß: „Es ist kein Zufall, dass alle großen moralischen Revolutionen, die unserer Vorstellung von Fortschritt entsprechen, mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einer größeren Freiheit der Liebe einhergingen.“ Dennoch findet die Liebe in den öffentlichen und akademischen Debatten nach wie vor kaum Berücksichtigung. Zwar beschäftigen sich Teilbereiche der Soziologie und des Feminismus mit der Liebe und ihren Erscheinungsformen. Doch insgesamt erachtet man sie als wenig lohnendes Forschungsobjekt, das eher in Boulevardblätter gehört. Die Liebe, so meint man, fällt eher ins Fachgebiet von Priestern, Katecheten und Psychoanalytiker. Dieses Ungleichgewicht in der Betrachtung von Liebe und Arbeit ist der eigentliche Grund dafür, dass es einfach nicht gelingen will, das Projekt Moderne vollständig zu verwirklichen. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Frauen waren lange Zeit vom öffentlichen Leben ausgeschlossen

Die Moderne war von Anfang an zur Unvollständigkeit verdammt, weil man eine der beiden Säulen des täglichen Lebens, den Kern des moralischen Projekts, sträflich vernachlässigt hat. Emanuele Coccia betont: „Und der Mangel an Überlegungen zur Liebe wiegt umso schwerer, da die Arbeit immer weniger in der Lage zu sein scheint, unsere Identität zu definieren – und schon gar nicht in wirtschaftlicher Hinsicht. Wir können nicht modern sein, weil wir noch immer nicht zu lieben gelernt haben.“

Dieses kulturelle Tabu wurzelt im männlichen Chauvinismus der Zivilisation. In dieser gab man das Wissen über Liebesbeziehungen, von den erotischen bis hin zu den platonische Aspekten, traditionell nur von Frau zu Frau weiter. Emanuele Coccia kritisiert: „Und Frauen waren bekanntlich lange Zeit vom kulturellen, wissenschaftlichen und öffentlichen Leben ausgeschlossen – und sind es teilweise bis heute. Die Folgen sind dramatisch.“ Denn im Gegensatz zur Arbeit nimmt man die Liebe nicht als etwas wahr, das einer wissenschaftlichen Untersuchung, eines Studiums oder gar einer speziellen Ausbildung bedarf.

Eros wurde zu einer unbedeutenden Nebengottheit degradiert

Die Liebe ist ein unmittelbar mit Freizeit und Ablenkung verbundener Teil der menschlichen Existenz, was sie zu einem beliebten Gegenstand von Dramen und Komödien macht. Emanuele Coccia stellt fest: „Während Eros also zu einer unbedeutenden Nebengottheit degradiert wurde, genießt Herakles allseits öffentliche Verehrung.“ Eine Gleichrangigkeit von Liebe und Arbeit scheint undenkbar. Denn wie sollte das auch gehen, angesichts der Freiheit, welche die Liebe braucht, und der Resultate, welche die Arbeit fordert. Wie sollte ein erfülltes Leben in diesem Spannungsfeld möglich sein?

Man muss gar nicht über das Zuhause nachdenken, weil man ohnehin nur liebt, um verliebt zu sein. Emanuele Coccia erklärt: „Die Virtuosität unserer urbanen Realität und die architektonischen Reflexionen über die Stadt haben mittlerweile ein Niveau erreicht, das an Komplexität kaum noch zu übertreffen ist.“ Dagegen hinken die Überlegungen über das Zuhause und den Wohnungsbau so weit hinterher, weil die meisten Architekten immer noch glauben, beim Bau eines Hauses oder einer Wohnung ginge es lediglich um die optische Anordnung von Raumeinheiten. Quelle: „Das Zuhause“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies

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