Die EU konzentriert und verdichtet sich auf Brüssel

Europa konzentriert sich auf einen unglaublich kleinen Ort, der „Brüssel“ genannt wird. Robert Menasse schreibt: „Siebenundzwanzig Staaten, fast vierhundertfünfzig Millionen Menschen auf einer Fläche von über vier Millionen Quadratkilometern: zusammengefallen und verdichtet auf Brüssel.“ Die Europäische Union (EU) scheint nur noch als diese Chiffre zu existieren: Brüssel, das die Souveränität der Nationalstaaten, nationale Interessen und vor allem die Demokratie, die nur als nationale vorstellbar sei, verschlucken will. So erscheint heute der vorherrschende politische Europadiskurs. Vor rund siebzig Jahren sind europäische Nationen bewusst und planvoll in einen gemeinsamen nachnationalen Prozess eingetreten. Denn diese Generation der Politiker hatte in nur einer Lebenszeit ihre Erfahrungen mit gleich mehreren verheerenden nationalistischen Kriegen gemacht. Seit 1988 lebt der Romancier und kulturkritische Essayist Robert Menasse hauptsächlich in Wien.

Der Nationalismus hat Europa verwüstet

Die Gründungsgeneration des europäischen Einigungsprojekts, das zur heutigen EU geführt hat, hat aus diesen katastrophalen Kriegserfahrungen eine konsequente Lehre gezogen, sie hat den Aggressor erkannt, benannt und einen Plan entwickelt, ihn zu überwinden: den Nationalismus. Robert Menasse betont: „Der Nationalismus hatte zu den größten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet. Das sollte nie mehr geschehen können.“

Die Lehren aus der Geschichte und die zeitgenössischen Erfahrungen führen zu demselben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert. Eines ist für Robert Menasse unbestreitbar: Die EU ist das vorläufige reale Ergebnis einer konkreten Utopie, eines Blicks in die Welt von morgen, in eine Zukunft, auf der Basis von historischen Erfahrungen und Gestaltungswillen. Der Nationalismus dagegen hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören.

Robert Menasse fordert eine gemeinsame europäische Demokratie

Der Autor schlägt folgende Dinge vor: Erstens muss man „unsere Werte“ aus dem Wörterbuch der Phrasen streichen. Zweitens muss die Idee des Projekts Europa rekonstruiert und konsequent vertreten werden. Drittens muss die EU, bevor man ihre Weiterentwicklung oder gar ihre Erweiterung angehen kann, zunächst wieder vertragskonform werden. Und viertens muss klargestellt werden, dass die großen Errungenschaften der Union, die großen Leistungen bisheriger Europa, wie zum Beispiel der Schengenraum, die Reise- und Niederlassungsfreiheit in Europa, nicht willkürlich von nationalen Regierungen außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden dürfen.

Und was könnte denn in Zukunft die Gemeinsamkeit und das Verbindende in Europa sein? Robert Menasse antwortet auf diese Frage, die er immer wieder hört und die ihn immer wieder erstaunt wie folgt: „Wir müssen es zulassen, das die Menschen in Europa zu einem „demos“ werden, in einer gemeinsamen europäischen Demokratie, in einem gemeinsamen Rechtszustand auf der Basis der Menschenrechte, gleicher Rahmenbedingungen und Chancen für alle, die in Europa leben und ihr Glück zu machen versuchen. Darum geht es: Einheit in Vielfalt. Das wäre Jedermanns Nutzen.“

Die Welt von morgen
Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde
Robert Menasse
Verlag: Suhrkamp
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten, Auflage 3: 2024
ISBN: 978-3-518-43165-8, 23,00 Euro

Von Hans Klumbies