Klagen von Kindern über Erziehungsfehler sind recht neu

Kinder und Eltern suchen, längst erwachsen und wirtschaftlich getrennt, immer noch nach Nähe und klagen über einen Mangel an Aufmerksamkeit. Wolfgang Schmidbauer schreibt in seinem neuen Buch „Böse Väter, kalte Mütter?“: „Entwertend und voller Klagen über nahe Verwandte bedeutet keineswegs, dass die Bindung an sie schwach, die Wünsche an sie zurückgenommen sind. Sie werden nach wie vor gebraucht.“ Manches an den Äußerungen hört sich an, als ginge es um die Rechtfertigung für einen eigenen Mangel an Lebenszufriedenheit oder Zukunftshoffnung. Während Klagen über missratene Kinder seit Anbeginn der Schriftkultur überliefert sind, sind Klagen von Kindern über Erziehungsfehler und Zuwendungsmängel der Eltern recht neu. Die Kinder vergleichen ihre Eltern mit dem Bild, das sie von „wirklich guten“ Eltern haben. Wolfgang Schmidbauer gilt als einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands.

Kritik an schlechten Eltern ist etabliert

Wie Kinder von guten Eltern alles Gute erhoffen, können sie fehlerhafte Eltern für alles Böse verantwortlich machen. Wer Prestige hat und Sinn stiftet, muss eine reine Gestalt sein. Wolfgang Schmidbauer weiß: „Die erwachsenen Kinder halten das Bild von Eltern fest, die stark und differenziert genug wären, um bei gutem Willen und entsprechendem Einsatz der nächsten Generation genau das zu geben, was ihr fehlt.“ Leider entziehen sich die Eltern böswillig oder gleichgültig dieser Aufgabe. Sie verweigern dem Kind etwas, auf das es ein Recht zu haben glaubt: Eltern, die so stark und einsichtig sind, wie man sie gerne hätte.

Das Buch „Böse Väter, kalte Mütter?“ richtet sich an alle, die sich für Familien interessieren, vor allem aber an Eltern, die unter den Vorwürfen erwachsener Kinder leiden. Kritik an schlechten Eltern ist etabliert, denn sie gelten als belastbar und sollen Verantwortung tragen. Anklagende Kinder dürfen dagegen Kinder bleiben, Verständnis und Mitgefühl erwarten. Die Rolle angeklagter Eltern hingegen ist unattraktiv und führt oft zu einem einsamen, depressiven Rückzug.

Die Dominanz von Kontrolle muss durchbrochen werden

Die meisten Konflikte zwischen Kindern und Eltern wurzeln in dem Wunsch, recht zu behalten und so das eigene Selbstgefühl vor demütigen Urteilen zu schützen. Die Alternative zum Recht ist die Gnade, ein schillernder Begriff, der historisch mit Macht zu tun hat. Gnade schwächt die Schärfe des Rechts, das für alle gleich sein soll, aber sie schafft auch einen Raum, in dem die Unvollkommenheit menschlicher Urteile verziehen und ein sonst unlösbarer Streit befriedet werden kann.

Eine heilsame Geste in Gefühlsbeziehungen richtet sich gegen die Dominanz von Kontrolle. Wolfgang Schmidbauer erläutert: „Gute Beziehungen gedeihen, wenn wir Verantwortung für Menschen übernehmen, ohne diese zu kontrollieren. Sie gehören zu uns, aber sie sind kein Eigentum, dessen Beschaffenheit wir bestimmen. Vorwurf, Beschwerde und Rache werden Enttäuschungen nicht mildern, die in unseren Erwartungen wurzeln.“ Eltern und Kinder haben sich gefunden, nicht geschaffen. Sie können miteinander wachsen und sich darin unterstützen, aber sie sollten nichts voneinander erwarten, das sie entwurzelt.

Böse Väter, kalte Mütter?
Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen
Wolfgang Schmidbauer
Verlag: Reclam
Gebundene Ausgabe: 176 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-15-011467-4, 18,00 Euro

Von Hans Klumbies