Es gibt eine neue Moral und den Willen zur Umerziehung

Was der Mensch hervorbringt, misst man stets an derselben Elle der Humanität, dem Maßstab gleichberechtigter Menschenwürde. Alain Finkielkraut fügt hinzu: „Keine Möglichkeit wird übersehen, eine Mühe gescheut, wenn es darum geht, Geist und Herz zu öffnen.“ Man beurteilt Philip Roth und Milan Kundera als zu sexistisch, um den Nobelpreis zu verdienen. Und man verdammt Vladimir Nabokovs „Lolita“ aus allen Lehrveranstaltungen der Universitäten. So kann man sich rühmen, niemanden mehr zu privilegieren und die Missetaten und Wunschvorstellungen der letzten Vertreter der patriarchalischen Gesellschaft zu verdammen. Der Bannstahl der neuen Moral und der Wille zur Umerziehung entspringen jedoch nicht dem „Tugendideal der Askese“, sondern einem „egalitären Ideal“. Man hütet sich übrigens, das Wort Tugend zu verwenden, weil man sich unbedingt vom Krieg gegen die Libido distanzieren will. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.

Die neue Moral hat die Dominanz im Visier

Nichts ist dieser Moral fremder als der metaphysische Dualismus von Leib und Seele. Alain Finkielkraut erläutert: „Sie will den Menschen nicht vor den Schrecken des Begehrens bewahren, sondern das Begehren vor dem Willen zur Macht. Es geht ihr um Wichtigeres als die Lust. Sie hat nicht die Ausschweifung, sondern die Dominanz im Visier.“ Sie verdammt nicht die Fleischeslust, aber noch bis ins heimlichste Bett spürt sie der Ungleichheit nach. Und sie will nicht die Begierde als solche brandmarken.

Mit anderen Worten, die neue Moralordnung ist weder reaktionär noch überhaupt konservativ. Man sorgt sich nicht etwa um das Bestehende, man will vielmehr ständig etwas verändern. Weit entfernt davon, sich in die Vergangenheit zurückzusehnen, schneitet man munter die alten Zöpfe ab. Und räumt ungestüm die Hindernisse aus dem Weg, die den Gang der Geschichte aufhalten könnten. Das heißt, Alexis de Tocqueville zufolge, die fortschreitende Angleichung aller Lebensbedingungen.

Die Kultur wird durch die Intoleranz herausgefordert

Man darf das also nicht als einen in Stein gemeißelten Verhaltenskodex verstehen, sondern als die permanente Revolution des gesellschaftlichen Miteinanders. Es geht nicht um das Festlegen unantastbarer Regeln, sondern um die Eigendynamik der Demokratie. Dabei handelt es sich nicht um eine feste Form, sondern um eine Kraft in ständiger Bewegung. Diese geht über alles hinweg, denn sie hat an ihrer bloßen Bewegung Freude. Sie annektiert, unter dem Vorwand sie zu „entstauben“ die Vergangenheit.

Alain Finkielkraut stellt fest: „Kein einziger Lebensbereich kommt ungeschoren davon, die unaufhaltsame demokratische Leidenschaft merzt in unserer Kultur alles aus, was ihren Wert ausmachte.“ Und wenn sie durch die Intoleranz, von der Salman Rushdie spricht, herausgefordert wird, dann erklärten die neuen Moralisten diese Kultur zum Urheber der Ungleichheiten. Sie hat den Hass, der ihr entgegenschlägt, und die Angriffe, denen sie ausgesetzt ist, durch ihre diskriminierende Praxis selbst verschuldet. Quelle: „Vom Ende der Literatur“ von Alain Finkielkraut

Von Hans Klumbies

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