Der Neid ist das geheimste aller Gefühle

Bettina Schulte schreibt in ihrem Buch „Neid“: „Der Neid ist das verbotenste aller Gefühle – und ist die Todsünde, die überhaupt keinen Spaß macht.“ Trotzdem scheint er für die Entwicklung von Gesellschaften notwendig zu sein. Denn der Neidische fühlt sich dem anderen überlegen. Das spornt ihn an, des dem Beneideten gleichzutun. Die Neidproduzenten von heute heißen Influencer. Die sozialen Medien Facebook und Instagram sind die größten Neidmaschinen der Gegenwart. Neidisch sind immer nur die anderen. Nur weiß im Normalfall keiner vom Neid. Denn er ist tabu. Heutzutage gehört der Neid zu den letzten Gefühlen, die geheim gehalten werden. „Bewunderung ist glückliche Selbstverlorenheit, Neid unglückliche Selbstbehauptung“, fasst der dänische Philosoph Sören Kierkegaard den Unterschied zwischen neidloser Anerkennung eines anderen und neidischer Selbstbezogenheit in einem klugen Aphorismus zusammen. Die Kulturjournalistin Bettina Schulte promovierte über Heinrich von Kleist und war mehr als zwanzig Jahre leitende Redakteurin im Feuilleton der Badischen Zeitung.

Der Neid ist ein niedriger und schäbiger Gemütszustand

Der Neid, darin sind sich die Philosophen seit der Antike ziemlich einig, ist ein unschöner, ein niederer, ein schäbiger Gemütszustand. Der Neid, so ist jedoch zu vermuten gehört zur anthropologischen Grundausstattung. Sobald Menschen in einer Gemeinschaft zusammenleben, können sie nicht umhin, sich mit anderen zu vergleichen. Und weil Gleichheit eine Utopie ist, wird der schlechter den besser Gestellten immer um das beneiden, was er nicht besitzt.

Alle Philosophen, Theoretiker, Psychologen unterscheiden zwischen dem subjektiven und dem kollektiven, dem sozialen Neid. Zwischen dem Neid, der konkret auf des Nächsten Hab und Gut zielt, und dem Neid, der in der Gesellschaft herrscht zwischen denen, die wenig oder nichts und denen, die viel besitzen. Und der den gesellschaftlichen Frieden, die Balance zwischen den verschiedenen Gruppierungen, in Gefahr bringen kann. Im krassesten Fall führt das materielle Ungleichgewicht zu Aufstand und Revolution.

Der Neid lässt sich nicht abschaffen

Dass der Neid das tabuisierte Gefühl schlechthin, macht seine Beherrschung nicht leichter. Der Gruppenanalytiker Rolf Haubl sieht eine Lösung in der „Neidtoleranz“: Man ist sich bewusst, dass ein anderer das Gut besitzt, das man selbst begehrt, und reagiert darauf mit Gelassenheit. Deren Voraussetzung ist allerdings ein stabiles Selbstwertgefühl. Spaltet man die neidischen Tendenzen in sich selbst ab, nicht zuletzt deshalb, weil sie sanktioniert werden könnten, können sie eine umso destruktivere Kraft entfalten. Die gesellschaftliche Tabuisierung des Neides zwingt dazu, ihn zu maskieren.

Bettina Schulte fasst zusammen: „Der Neid, das dürfte klar geworden sein, lässt sich nicht abschaffen – schon gar nicht durch Leugnen, Sanktionieren oder Tabuisieren. Gegen den Neid ist kein Kraut gewachsen, ob er als Todsünde verteufelt wird oder nicht.“ Menschen müssen mit ihm leben, der eine mehr, der andere weniger. Es gibt Neidische und Beneidete – und beiden Spezies geht es nicht gut dabei. Den Neider frisst das allseitige Gefühl des Mangels auf, der Beneidete muss mit sozialer Isolation, Missgunst und Hass fertig werden.

Neid
Das verschwiegene Gefühl
Bettina Schulte
Verlag: Hirzel
Broschierte Ausgabe: 117 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-7776-3099-1, 18,00 Euro

Von Hans Klumbies