Der Imperialismus hat die Europäer geprägt

Das Bewusstsein für die Relativität von Wertesystemen fließt heutzutage in zahlreiche historische und kulturelle Studien ein. Carlo Rovelli betont: „Es hilft uns, uns ein wenige von unserem natürlichen Provinzialismus zu lösen.“ Zudem erlaubt es, diejenige Sichtweise zu korrigieren, die der europäische Imperialismus deformierte. Diese hat die Europäer geprägt und ihnen suggeriert, dass der westliche Standpunkt der einzig vernünftige ist. Und dieses Bewusstsein hilft den Europäern auch zu verstehen, dass das, was sie wahr, schön und gut finden, von anderen anders gesehen werden kann. Wenn die Naturwissenschaften selbst keine Sicherheit bieten können, dann sollte dies umso mehr ein Grund dafür sein, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was man für wahr hält. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Der kulturelle Relativismus ist leider in Mode

Leider wird diese vernünftige und wichtige Erkenntnis, dass Wertesysteme relativ sind, häufig zu einer völligen Relativierung aller Werte überspitzt. Diese besagt, dass alle ethischen und moralischen Ansichten gleichwertig sind. Deshalb ist es sinnlos, von Recht und Unrecht oder von „Wahrheit“ zu reden. Dieser radikale kulturelle Relativismus ist laut Carlo Rovelli heutzutage leider in Mode. Er hat sich in der Öffentlichkeit mehrerer Länder ausgebreitet und dominiert das kulturelle Geschehen an gewissen großen amerikanischen Universitäten.

Aufgrund solcher Vorstellungen verteidigt man zum Beispiel in den Vereinigten Staaten den Anti-Darwinismus. Für die Verteidiger gibt es keinen Grund, die Behauptung, die Erde sei vor 6000 Jahren geschaffen worden, nicht neben Charles Darwins Theorie zu stellen. Beide Sichtweisen unterrichtet man gleichberechtigt in den Schulen des Landes. Carlo Rovelli kritisiert: „Dieser groteske Relativismus ist das Ergebnis eines tiefgreifenden Missverständnisses.“

Der kulturelle Relativismus ist in sich widersprüchlich

Vorstellungen ernst zu nehmen, die sich von den eigenen unterscheiden, ist nicht dasselbe wie zu behaupten, alle Vorstellungen seien gleichwertig. Sich bewusst zu sein, dass man sich irren kann, heißt nicht, dass Begriffe wie „richtig“ und „falsch“ bedeutungslos sind. Man sollte sich darüber klar sein, dass ein Urteil stets aus einem komplexen kulturellen Kontext erwächst und implizit mit vielen anderen Urteilen verknüpft ist. Das bedeutet aber keineswegs, dass man nicht erkennen kann, ob etwas falsch ist.

Carlo Rovelli stellt fest: „Das zentrale Problem dieses radikalen kulturellen Relativismus ist, dass er in sich widersprüchlich ist. Gewiss, es gibt keine absolute Wahrheit, losgelöst von Geschichte und Kultur.“ Kein Diskurs findet außerhalb seiner Kultur und ihres Werte- und Wahrheitssystems statt. Aber genau aus diesem Grund bewegt man sich stets innerhalb eines kulturellen Systems. Und innerhalb dieses Systems kann man nicht auf Wertungen und Urteile verzichten. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies

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