Das Zeitalter des Narzissmus ist ausgebrochen

Eine gewisse Form von Ich-Bezogenheit kann überhaupt erst entstehen, wenn ein Mensch ein Bild von sich sieht, ein Spiegelbild, ein Porträt oder ein Foto. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Denn nur dann sehe ich etwas, was ich ansonsten nicht sehen kann: mich. Das „Mich der Wahrnehmung“, wie es der Philosoph Lambert Wiesing genannt hat, ist mir immer nur als Bild zugänglich.“ Ohne dieses sieht ein Mensch nur Teile seines Körpers – nie den Rücken, nie das Gesicht – und dass man sich in den Reaktionen und Verhaltensweisen anderer spiegeln kann, ist eine Metapher, die die Erfahrung des Selbst im Bild schon voraussetzt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Der Friede überwiegt die Zeiten des Krieges

Die Geschichte ist überwiegend ein durch Kriege unterbrochener Friede, nicht durch Phasen des Friedens unterbrochene Kriege. Nassim Nicholas Taleb erläutert: „Das Problem besteht darin, dass wir Menschen zu einer Verfügbarkeitsheuristik neigen, bei der die Bedeutung fälschlicherweise mit dem Statistischen verwechselt wird, und der auffällige und emotionale Effekt eines Ereignisses lässt uns glauben, dass es regelmäßiger vorkommt, als es tatsächlich der Fall ist.“ Das hilft den Menschen dabei, im Alltagsleben klug und vorsichtig zu agieren, indem sie eine zusätzliche Schutzschicht einführen, aber in der Forschung entstehen dadurch keine Fortschritte. Wenn man nämlich historische Darstellungen internationaler Angelegenheiten liest, könnte man fälschlicherweise annehmen, dass es in der Geschichte hauptsächlich um Kriege ging. Nassim Nicholas Taleb ist Finanzmathematiker, philosophischer Essayist, Forscher in den Bereichen Risiko und Zufall sowie einer der unkonventionellsten Denker der Gegenwart.

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Das Wohlbefinden hängt stark von der sozialen Umgebung ab

Die Vorstellung, Glück ließe sich ganz individuell und unabhängig von allen anderen verwirklichen, ist reichlich weltfremd. Ulrich Schnabel ergänzt: „Ein falsch verstandenes, zwanghaft positives Denken, das alles Negative ausblendet und nur rosarote Brillen zulässt, bringt am Ende mehr Unglück als Glück hervor.“ Schließlich hängt das Wohlbefinden eines Menschen stark von der sozialen Umgebung ab, von Freunden, Partnern, Arbeitskollegen et cetera. Zufriedenheit, so zeigt auch eine Langzeitstudie der Harvard University, hat vor allem mit Beziehungen zu tun. Studienleiter George Vaillant erklärt: „Den größten Einfluss darauf, ob ein Leben gelingt, hat Bindung. Und dabei geht es nicht unbedingt um die Bindung zum Lebenspartner, sondern eher um die grundsätzliche Beziehung zu anderen Menschen, also im Sinne einer altruistischen und empathischen Verbindung.“ Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Viele Menschen in Deutschland träumen von Abschottung

In Deutschland, nicht anders als in anderen europäischen Ländern oder unter Donald Trump-Wählern, träumen viele von Abschottung, um ihre Wohlfühlmatrix nicht teilen zu müssen. Zudem ist die Sehnsucht nach einem besseren Gestern, nach einem Heil in der Vergangenheit allgegenwärtig. Richard David Precht erläutert: „Noch hängen in Deutschland mehr Menschen einer solchen Retropie an als gegen eine wahrscheinliche digitale Dystopie aufzubegehren. Geflüchtete Menschen auf den Straßen sind sichtbarer, lauter und für viele verstörender als Algorithmen.“ In ihrer Angst, Überforderung, Unsicherheit, Aggression und in ihrem Hass schreien Menschen auf deutschen Marktplätzen und in Bierkellern: „Deutschland!“ Doch was ist Deutschland, zu welchem Deutschland wollen sie zurück? Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Gelassenheit ist eine Anstrengung

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 05/2019 lautet „Gelassen sein“. Gelassen sein, das meint im Kern: Lassen können. Für Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler ist eines völlig klar: „Gelassenheit ist nichts, was sich einfach von allein einstellt. […] Gelassenheit ist eine Anstrengung. Und somit, so paradox es klingen mag, ein Tun.“ Passivität und Aktivität sind dabei unauflöslich ineinander verschränkt. Das Philosophie Magazin ruft nicht zu einem fortwährend tiefenentspannten Dasein auf, das sich ums Außen nicht schert, weil der Fried bereits im Innen fest verankert ist. Die Kunst besteht gerade darin, jene Augenblicke zielgenau zu erkennen, in denen ein starker Affekt nicht nur angebracht, sondern sogar notwendig ist. Das gilt für das Private wie auch für das Politische.

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Beim Erleben der Natur wird dem Menschen seine Kleinheit und Größe bewusst

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Dieses bekannte Zitat stammt von Immanuel Kant (1724 – 1804), dem wichtigsten deutschen Philosophen der Aufklärung. Für Manfred Spitzer hört sich das Kant-Zitat schon formal aufgrund der verwendeten Sprache eigenartig an. Auch inhaltlich tut sich der heutige Mensch schwer mit der hier behaupteten Verbindung von Sternenhimmel einerseits und dem Menschen als soziales Gemeinschaftswesen andererseits. Liest man weiter in Immanuel Kants Text, so erfährt man durchaus genauer, was er hier meint. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

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Das richtige Vergleichen zählt zu den Prinzipien des guten Lebens

Eine persönliche Krise, die mehrere Ursachen hat, erfordert in der Regel ein ganzes Maßnahmenpaket zu ihrer Bewältigung – manche liegen in der Hand des Einzelnen, andere stellen eher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, die auch politischer Initiative bedarf. Ulrich gibt dazu ein paar hilfreiche Hinweise, die sich seiner Meinung nach relativ einfach formulieren lassen: „Als Erstes wäre da die Empfehlung, sich in der Kunst des richtigen Vergleichens zu üben: Vergleichen Sie sich lieber mit sich selbst. Was kann ich besser, wo bin ich klüger als vor 1, 5 oder 10 Jahren. Statt der Versuchung nachzugeben, auf andere herabzublicken oder sich mit jenen zu messen, denen es vermutlich besser geht.“ Solche Vergleiche lenken nur von der konstruktiven Beschäftigung mit der eigenen Situation ab. Ulrich Schnabel ist seit über 25 Jahren Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT.

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Die Tugend des Muts kann niemand vortäuschen

Man kann zweifellos davon ausgehen, dass die Tugend mit dem Einsatz für das Kollektiv zusammenhängt, vor allem wenn ein solcher Einsatz mit seinen eigenen eng definierten persönlichen Interessen kollidiert. Man wird nicht dadurch tugendhaft, dass man einfach nur nett zu Menschen ist, um die sich auch andere Leute kümmern. Nassim Nicholas Taleb betont: „Wahre Tugend besteht ganz überwiegend darin, nett zu denen zu sein, die von anderen vernachlässigt werden – die weniger offensichtlichen Fälle, diejenigen, die im Wohltätigkeits-Business übersehen werden. Oder Leute, die keine Freunde haben und lediglich wollen, das sie hin und wieder von jemanden angerufen werden, der mit ihnen redet oder mit ihnen einen Kaffee aus frisch gerösteten Bohnen im italienischen Stil trinkt.“ Nassim Nicholas Taleb ist Finanzmathematiker, philosophischer Essayist, Forscher in den Bereichen Risiko und Zufall sowie einer der unkonventionellsten Denker der Gegenwart.

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Der Mensch ist frei geboren

Dass die Freiheit sich selbst gefährden kann, tritt im Wesentlichen erst im Verlauf der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte auf. Innere Spannungen dagegen begleiten die Freiheit von Anfang an. Eine von ihnen wird im paradoxen Zitat eine neuzeitlichen Freiheitstheoretikers bekannt: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Otfried Höffe erklärt: „Dieser Einleitungssatz des ersten Kapitels „Vom Gesellschaftsvertrag“ (1762) führt Jean-Jacques Rousseau ins Zentrum des vielfältigen und in mancher Hinsicht irritierenden Freiheitsbegriffs.“ Er stellt nämlich fünf Behauptungen über die Freiheit auf, die durch den nächsten Satz sowie den Kontext um drei weitere Behauptungen ergänzt werden. Sie alle werden sich als plausibel erweisen. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Die Gelassenheit zählt zu den vier Kardinaltugenden

Das, was viele Menschen suchen, um genügend Spielraum für ihre Handlungen zu gewinnen, die mehr sein sollen als reine Reaktionen auf Stressmomente, ist offenbar nicht der Zustand der Entspannung, sondern eher eine innere Haltung, die Ina Schmidt mit dem Begriff „Gelassenheit“ definiert: „Die Gelassenheit beschreibt eine Tugend, die schon in der Antike mit dem Begriff der Seelenruhe beschrieben wurde, nicht weil sie all das, was zu tun ist, loslässt, sondern weil sie uns befähigt, auch in emotionalen Stürmen den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren und handlungsfähig zu bleiben.“ In der platonischen Schule gehört die Gelassenheit zu den vier Kardinaltugenden für ein gelingendes Leben – neben der Weisheit, der Tapferkeit und der Gerechtigkeit. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Ein starker Mensch träumt nicht von Vergeltung

Martha Nussbaum betont, welche Rolle die Hilflosigkeit bei der Vergeltung spielt: „Vergeltungswünsche sind häufig Ausdruck verdrängter grundlegender Machtlosigkeit und vermitteln die Illusion, man könnte an seiner schlechten Situation etwas ändern.“ Entsprechend ließe sich vermuten, dass Menschen und auch Institutionen desto eher Gnade walten lassen könnten, je mehr Vertrauen sie in die eigene Stabilität und ihre eigene Macht haben. Und in der Tat hat der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche eine solche Verbindung überzeugend dargestellt. Wie der römische Philosoph Seneca vertritt er die Auffassung, dass die Rachemoral, die er im Christentum erkennt, psychologisch mit einem Gefühl der Schwäche und der Machtlosigkeit verbunden ist. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Aussagen sind entweder wahr oder falsch

Das sogenannte Wahrheitsargument nimmt seinen Ausgang von der Beobachtung, dass ein Mensch das, was er für wirklich hält, in Sätzen ausdrücken kann. Markus Gabriel ergänzt: „Sätze, mit deren Äußerung wir beanspruchen festzustellen, was der Fall ist, können wir als Aussagen bezeichnen. Aussagen sind entweder wahr oder falsch.“ Sie sind jedenfalls etwas, bei dem das Wahrsein überhaupt infrage kommt. Eine Disjunktion ist dabei eine Aussage der Form, dass etwas oder etwas anderes der Fall ist. Wenn etwas wahr ist, kann man diese Wahrheit durch etwas ergänzen, bei dem es keine Rolle spielt, ob es auch wahr ist. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Minimalismus bedeutet Freiheit

Ein Großteil des eigenen Besitzes hat rein persönlichen Wert: Reiseandenken, geliebte, vom vielen Lesen zerfledderte Bücher, Briefe von teuren Menschen, Fotos unvergesslicher Momente. Fumio Sasaki ergänzt: „Die Mühe, die es uns gekostet hat, ein bestimmtes Ding zu bekommen, der Preis, den wir bezahlt haben, um es zu erwerben, die Geschichte drumherum – all das steigert den Wert, den wir einem Ding beimessen.“ Doch egal wie teuer einem Menschen ein Gegenstand ist, egal wie wunderbar man ihn findet: Andere Menschen werden ihn nicht so hoch schätzen, in ihren Augen handelt es sich einfach um einen beliebigen Gegenstand. Diese Erkenntnis kam Fumio Sasaki, al er darüber nachdachte, was nach seinem Tod passieren würde. Fumio Sasaki arbeitete als Cheflektor des japanischen Verlages Wani Books, bevor er freier Autor wurde.

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Das Schicksal lässt sich nicht berechnen

Vor allem ist es der persönlichen Entscheidung überlassen, wie man sein Geschick aufnimmt, bewertet und in sich verarbeitet. Albert Kitzler fügt hinzu: „Schicksal ist ein Verhältnis, nämlich das zwischen einem äußeren Ereignis und der seelischen Verarbeitung.“ Beide Seiten dieses Verhältnisses, das äußere Ereignis und der Mensch selbst, haben einen Einfluss darauf, ob ein Missgeschick oder Unglück bei ihm Ärger, Zorn, Angst und Sorgen auslöst. Seneca lässt einmal die Natur, bzw. das Schicksal, folgendermaßen sprechen: „Das, worüber du klagst, ist für alle das Gleiche. Ich kann niemandem zu Leichterem verhelfen; wohl aber kann jeder, wenn er nur will, es sich selber leichter machen.“ Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

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Meist ist die Natur bedrohlich und erhaben

Nur die Natur, oder vielmehr die Kulturlandschaft, die viele Menschen oft für die ursprüngliche Natur halten, kann von sich aus „schön“ sein. Meist allerdings ist die Natur vor allem bedrohlich und erhaben. Frank Berzbach weiß: „Natur ist nur dann schön, wenn sie zugänglich wird, wie es die Geschichte der Gärten, die Gartenkunst erzählt. Im Garten begegnen wir der Natur auf eine aushaltbare Weise wieder.“ Die ungefilterte Begegnung mit ihr – auf den Weltmeeren, in der Wüste oder im Hochgebirge – hat oft wenig mit Schönheit zu tun, sondern ist eher eine Erfahrung überwältigender Demut. Man kommt sich klein und unbedeutend vor. Der Mensch ist ein Mängelwesen. Dr. Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln.

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Nur die Bildung führt zu einem voll erblühten Menschsein

Die platonische Lebenskunst ist keine Ethik des Willens, sondern des Verstehens. Es geht ihr nicht darum, den Willen des Menschen auf bestimmte Werte oder Normen zu lenken, sondern sie lädt ein, auf umfassende, ganzheitliche und existenzielle Weise zu verstehen, was es im eigentlichen Sinne bedeutet, ein lebendiger Mensch zu sein. Christoph Quarch erläutert: „Der Weg dorthin ist kein religiöser Weg der Askese oder Unterwerfung und auch kein Weg utilitaristischer Nutzenkalküle oder zweckrationaler Strategien.“ Es ist vielmehr der Weg der Bildung. Man kann ihn als ein Programm der Kultivierung der im Menschen latenten Anlage zum voll erblühten Menschsein beschreiben, keineswegs aber als ein methodisch-technisches Programm der Optimierung des Menschen. Der Philosoph, Theologe und Religionswissenschaftler Christoph Quarch arbeitet freiberuflich als Autor, Vortragender und Berater.

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Michel Foucault befreit das Denken

Die neue Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist dem Philosophen Michel Foucault gewidmet. In ihrem Editorial beschreibt Chefredakteurin Catherine Newmark den französischen Denker und Intellektuellen als einen Menschen, der die Philosophie gerade nicht als ein Gespräch mit den komplizierten Gedanken weiser alter Männer betrieb, sondern als ein einziges großes Warum-Fragen: „Warum ist unsere Idee von Wahrheit so, wie sie ist, und nicht anders? Wie sind überhaupt unsere Kategorien des Wissens und der Weltwahrnehmung entstanden?“ Michel Foucault interessierte es überhaupt nicht, sich in ein bestehendes philosophisches Systemdenken mit einem weiteren Argument einzumischen. Ihm ging es ums große Ganze: „Wie kommt es, dass wir so denken, wie wir denken?“ Und ebenso: „Wie hat sich unser kompliziertes Verhältnis zu uns selbst und zu unserem Körper historisch entwickelt?“

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Liebe und Freiheit gehören untrennbar zusammen

Die Liebe, das Gefühl der Verschmelzung schlechthin, beinhaltet paradoxerweise ein Fragment der ausgedehnten und komplexen Geschichte von Autonomie und Freiheit, die zumeist in politischen Begriffen erzählt wird. Eva Illouz erläutert: „Das Genre der Liebeskomödie – das mit Menander entstand, von den Römern mit den Stücken von Plautus und Terenz fortgesetzt wurde und in der Renaissance zu neuer Blüte fand – handelte vom Anspruch junger Menschen auf Freiheit gegenüber Eltern, Lehrern und alten Männern.“ Während die Liebe in Indien und China in religiös modellierten Geschichten verhandelt wurde, einen festen Bestandteil im Leben der Götter bildete und nicht an sich gegen gesellschaftliche Autoritäten aufbegehrte, löste sie sich in Westeuropa und den Vereinigten Staaten nach und nach von der religiösen Kosmologie ab. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Der Minimalismus steigert die Zufriedenheit

Funktionstüchtige Dinge wegzuwerfen, ist eine Verschwendung. Fumio Sasaki widerstrebt es, Dinge einfach in den Müll zu schmeißen, und er versucht, sein Zeug so loszuwerden, dass jemand anderes noch etwas davon hat. Fumio Sasaki erläutert: „Die wahre Verschwendung aber liegt in dem seelischen Schaden, den man nimmt, wenn man sich an nutzlose Dinge klammert.“ Ständig fühlt man sich schuldig – beim Betrachten unnützer Geschenke oder überflüssiger Einkäufe. Sich von Dingen zu trennen, heißt allerdings nicht, seine Erinnerungen wegzuwerfen. Manchmal sorgt genau dieser Akt des Verabschiedens dafür, dass sich bestimmte Erinnerungen für die Ewigkeit einbrennen. Der amerikanische Dichter Allen Ginsberg sagte einmal, einem Teppich doppelt so viel Aufmerksamkeit zu schenken, sei gleichbedeutend damit, zwei Teppiche zu besitzen. Fumio Sasaki arbeitete als Cheflektor des japanischen Verlages Wani Books, bevor er freier Autor wurde.

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Die digitale Revolution greift den Arbeitsmarkt an

Die Gedanken, Gefühle und Interessen der Menschen scheinen heutzutage in vielen Wirtschaftsbereichen nichts mehr zu gelten. Für den weltklugen irischen Konservativen Edmund Burke, einen Schriftsteller und Politiker des 18. Jahrhunderts, waren sie allerdings der einzige feste Halt von Autorität. Nicht Gesetze, Sätze auf Papier mit Unterschriften, entscheiden darüber, ob eine Gesellschaft zusammenhält, sondern ihre „Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Sympathien füreinander“. Ihre „Sitten, Umgangsformen und Lebensgewohnheiten“ stiften den sozialen Kitt; „Verpflichtungen, die mit dem Herzen besiegelt werden“. Richard David Precht stellt fest: „Doch offenkundig kümmern sich die großen Digitalkonzerne bei der Ausübung ihrer neuen Weltherrschaft herzlich wenig um die Maxime, Macht auf Sitten und Gebräuche zu gründen.“ Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Die Verantwortung ist eng mit der Lüge verbunden

Konrad Paul Liessmann macht sich nichts vor: „Ist von Verantwortung die Rede, lauert im Hintergrund schon die Lüge.“ Ein Beispiel? „Verantwortung kennt keine Grenzen.“ Mit diesem Slogan bewarb der VW-Konzern vor dem Abgasskandal seine angeblich führende Rolle in Sachen „Corporate Social Responsibility“. Noch kurz vor seinem Rücktritt konnte der Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn verkünden: „Mit dem Wachstums des Konzerns wächst auch seine Verantwortung – für sichere und gute Arbeitsplätze, für die Ausbildung und die Chancen der jungen Generation, für Bildung, Wissenschaft und Kultur, für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Talente entfalten kann, und vor allem auch: für eine intakte Umwelt.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Der Zauber des Abendlands liegt im Widerstreit begründet

Nach wie vor hält es Thea Dorn für fragwürdig, wenn beim Reden über Europa Wohlstand und Frieden so massiv in den Vordergrund gestellt werden. Selbstverständlich sind beide wertvolle Errungenschaften. Es ist ein Segen, dass das heutige Europa weder von Hunger und Seuchen noch von blutigen Glaubens-, Ideologie- oder Territorialkriegen verwüstet wird. Dennoch ist Thea Dorns Europa in erster Linie ein geistig-kultureller und freiheitlicher Kontinent. Thea Dorn schreibt: „Wenn ich den eigentümlich unruhigen und dynamischen Zauber des Abendlands mit einem Wort benennen sollte, würde ich sagen: Er liegt im Widerstreit begründet.“ Das europäische Denken nahm seinen Anfang mit fragmentarisch überlieferten Reflexionssplittern wie denen des Vorsokratikers Heraklit. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Das menschliche Leben war von Anfang an ein gesellschaftliches

Das menschliche Leben funktioniert „normativ“. Das heißt: Es ist von Regeln bestimmt, die nicht allein empirisch sind, also nicht nur aus Erfahrung und Bedingungen bestehen, sondern aus selbst gemachten Wertungen und Zumutungen. Thomas Fischer erläutert: „Die Frage, ob man dies in einem reflektierten, absichtsvollen Sinn „will“ oder als richtig, angemessen, rational empfindet, stellt sich in der Wirklichkeit nicht, denn eine Alternative besteht nicht.“ Das menschliche Leben ist von Anfang an ein gesellschaftliches gewesen und daher untrennbar mit Normativität verbunden. Anders als in den theoretischen Modellen des sogenannten „Gesellschaftsvertrags“ beschrieben, entstanden menschliche Gesellschaften nicht als quasi vertragliche Zusammenschlüsse freier und geistig entwickelter Individuen aus rationalen Gründen, sondern immer und ausschließlich als Gemeinschaften, in einer kollektiven evolutionären Entwicklung aufeinander bezogenen bewussten Handelns. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Das Selbst ist einem ständigen Wandel unterworfen

Es ist das Akzeptieren von Vielfalt, von Zweideutigkeit, von verschiedenen möglichen Wegen, die einem Menschen die Augen für das Eigene öffnen. Dabei geht es auch um das Einräumen von Uneindeutigkeit und inneren und äußeren Grenzen, die man mitdenken muss – und zwar gerade dann, wenn man auf der Suche nach dem Wahren, dem Wahrhaftigen ist. Ina Schmidt weiß: „Es ist der Mut, den wir brauchen, einer solch zweideutigen Wahrheit gegenüberzutreten, eröffnet die Möglichkeit, sich wirklich selbst zu begegnen.“ Es geht also nicht darum, das eigene Wesen aufzudecken, sondern sich in einem werdenden Sein zurechtzufinden, einem Selbst, das aufmerksamer Betrachtung und Begleitung bedarf, um in allem Wandel immer wieder ein Selbst bleiben zu können. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Ein guter Richter solle Gnade walten lassen

In ihrer Erörterung der Perspektive nachträglicher Bestrafung hat Martha Nussbaum wiederholt auf die immense Bedeutung des vorausschauenden Denkens verwiesen: „Wenn die Gesellschaften das menschliche Wohl besser schützen würden, gäbe es zwar sicher auch weiterhin Verbrechen, doch es wären insgesamt weniger.“ Bildung, Erwerbstätigkeit und Wohlverhältnisse machen viel aus. Bei der Auseinandersetzung mit der Bestrafung möchte Martha Nussbaum auf eine von den Stoikern hoch geschätzte Haltung zu sprechen kommen. Der griechisch-römischen Auffassung nach ist Gnade oder Milde eine Eigenschaft eines guten Richters, wenn er darüber entscheidet, wie auf Ungerechtigkeiten reagiert werden soll. Seneca definiert sie als „Mäßigung in der Macht zu strafen“. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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