Die Unterklasse steht der neuen Mittelkasse diametral entgegen

Dem am Modell erfolgreicher Selbstverwirklichung orientierten Lebensstil der neuen Mittelklasse diametral entgegen steht in der spätmodernen Gesellschaft die Lebensform der neuen Unterklasse. Andreas Reckwitz erläutert: „Es handelt sich um jene heterogenen Gruppen von Beschäftigten in den einfachen Dienstleistungen, von prekär und Mehrfachbeschäftigten, von Industriearbeitern jenseits der Normalarbeitsverhältnisse, welche in der Tradition der industriellen „blue collar“-Arbeit stehen, sowie von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, die jedoch alle eine ähnliche Lebenssituation teilen.“ Wenn vor dem Hintergrund der alten Mittelstandsgesellschaft die akademische Mittelklasse die sozialen und kulturellen „Aufsteiger“ bilden, dann handelt es sich bei der neuen Unterklasse um die Gruppe der „Absteiger“. Die Polarisierung zwischen der neuen Mittel- und Unterklasse betrifft nicht allein eine soziale Ungleichheit von materiellen Ressourcen, sondern auch und gerade einen Gegensatz seitens der „kulturellen Logiken“ der Lebensführung. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Die neue Unterklasse wird zum Gegenstand einer negativen Kulturalisierung

Die Klassen stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander, sie nehmen einander wahr und setzen sich zueinander ins Verhältnis. Andreas Reckwitz erklärt: „Ausgehend von der neuen Mittelklasse und ihrem Selbstverständnis, den avancierten Lebensstil der Gesellschaft der Singularitäten zu vertreten, den auch die Institutionen – in der Politik, im Bildungswesen, der Medizin etc. – auf breiter Front stützen, wird die neue Unterklasse zum Gegenstand einer negativen Kulturalisierung.“

Diese betrifft die geringe Ausstattung mit – formellem und informellem – kulturellem Kapital. Dadurch entsteht die begrenzte Möglichkeit, das eigene Leben – in legitimer Weise – ethisch-ästhetisch zu kulturalisieren, sowie die Entwertung des gesamten Lebensstils als defizitär, als ohne Lebensqualität, Anerkennung und Perspektive. Dabei handelt es sich um eine Entwertung, die von außen, aber häufig auch von innen in Form einer Selbstentwertung erfolgt.

Die Höhe des kulturellen Kapitals entscheidet über den sozialen Status

Es ist häufig festgestellt worden, dass die neue Unterklasse aus Modernisierungsverlierern besteht. Andreas Reckwitz fügt hinzu: „Das ist zweifellos insofern richtig, als Modernisierung seit den 1970er Jahren den Übergang zur postindustriellen Gesellschaft bedeutet – mit dem Aufstieg der Wissens- und Kulturökonomie, die nach hochqualifiziertem Personal verlangt, bei gleichzeitigem Schrumpfen der Industriearbeit samt ihrer Belegschaft.“ Die Modernisierungsverlierer sind dabei häufig auf allen im Zuge der Verwettbewerblichung des Sozialen ubiquitären Märkten benachteiligt.

Zunächst sind sie auf en postindustriellen Arbeitsmärkten ins Abseits geraten, aber auch – meist daraus folgend – auf dem Wohnungs-, dem Bildungs- und nicht selten dem Partnerschaftsmarkt. Andreas Reckwitz ergänzt: „In unserem Zusammenhang wichtig ist jedoch, dass sie sich zugleich als Kulturalisierungsverlierer darstellen, das heißt Verlierer jenes Prozesses, in dem die Höhe des kulturellen Kapitals über den sozialen Status entscheidet und der singularistische Lebensstil der neuen Mitteklasse als der eigentlich zeitgemäße und wertvolle gilt.“ Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies