Die Wahrheit stabilisiert das Leben der Menschen

Hannah Arendt hält wie Martin Heidegger an der terranen Ordnung fest. So beschwört sie oft Halt und Dauer. Byung-Chul Han fügt hinzu: „Nicht nur Weltdinge, sondern auch die Wahrheit haben menschliches Leben zu stabilisieren. Im Gegensatz zur Information besitzt die Wahrheit eine Festigkeit des Seins.“ Dauer und Beständigkeit zeichnen sie aus. Wahrheit ist Faktizität. Sie leistet jeder Veränderung und Manipulation Widerstand. So bildet sie das Fundament der menschlichen Existenz. Hannah Arendt schreibt: „Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann. Metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“ Bezeichnenderweise siedelt Hannah Arendt die Wahrheit zwischen Erde und Himmel an. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Die Wahrheit ist zeitintensiv

Die Wahrheit gehört zur terranen Ordnung. Sie gibt dem menschlichen Leben einen Halt. Die digitale Ordnung dagegen beendet die Epoche der Wahrheit und leitet die postfaktische Informationsgesellschaft ein. Das postfaktische Regime der Information erhebt sich über die Tatsachenwahrheit. Informationen in ihrer postfaktischen Prägung sind dingflüchtig. Wo nichts dingfest ist, geht jeder Halt verloren. Zeitintensive Praktiken sind heute im Verschwinden begriffen.

Zeitintensiv ist auch die Wahrheit. Byung-Chul Han betont: „Wo eine Information die andere jagt, haben wir keine Zeit für Wahrheit. In unserer postfaktischen Erregungskultur beherrschen Affekte und Emotionen die Kommunikation.“ Im Gegensatz zur Rationalität sind sie in temporaler Hinsicht sehr unbeständig. So destabilisieren sie das Leben. Auch Vertrauen, Versprechen und Verantwortung sind zeitintensive Praktiken. Sie erstrecken sich über die Gegenwart hinaus auf die Zukunft. Alles, was menschliches Leben stabilisiert, ist zeitintensiv.

Das kontemplative Verweilen ist eine Formel des Glücks

Treue, Bindung und Verbindlichkeit sind ebenfalls zeitintensive Praktiken. Der Zerfall der stabilisierenden Zeit-Architekturen, zu denen auch Rituale gehören, macht das Leben instabil. Zur Stabilisierung des Lebens ist eine andere Zeitpolitik notwendig. Zu zeitintensiven Praktiken gehört auch das Verweilen. Die Wahrnehmung, die sich an Informationen heftet, hat keinen langen und langsamen Blick. Informationen machen uns kurzsichtig und kurzatmig. Es ist unmöglich bei Informationen zu verweilen.

Byung-Chul Han stellt fest: „Das kontemplative Verweilen bei den Dingen, das absichtslose Sehen, das eine Formel des Glücks wäre, weicht dem Jagen nach Informationen. Wir rennen heute Informationen nach, ohne Wissen zu erlangen. Wir nehmen Kenntnis von allem, ohne zu einer Erkenntnis zu gelangen.“ Viele Menschen fahren überall hin, ohne eine Erfahrung zu machen. Sie kommunizieren ununterbrochen, ohne an einer Gemeinschaft teilzunehmen. Sie speichern Unmengen von Daten, ohne Erinnerungen nachzugehen. So entwickeln Informationen eine Lebensform, die ohne Bestand und Dauer ist. Quelle: „Undinge“ von Byung-Chul Han

Von Hans Klumbies

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