Die Technik gleicht das Defizit der biologischen Entwicklung aus

Emanuele Coccia erklärt: „Ein Kokon ist ein postnatales Ei, das vom Individuum gleichsam fabriziert wird. Er umreißt eine Sphäre, wo Sein und Machen in einer dritten Dimension verschmelzen.“ Diese Evidenz ist bestimmend für eine Eigenschaft des metamorphischen Phänomens: dessen rein technische Natur. Bei jeder Verwandlung konstruiert das Lebendige notwendigerweise die eigene Gestalt, die somit nichts Natürliches oder Spontanes an sich hat. Mehr noch, die Natur der Technik selbst geht tief gewandelt daraus hervor. Die meisten Menschen sind es gewohnt, die Technik als Folge eines biologischen Defizits des Individuums zu begreifen. Seit Platon und seinem Mythos von Prometheus und Epimetheus ist man es gewohnt, die Technik nicht nur als einen rein menschlichen Zug zu begreifen. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Prometheus gab den Menschen das technische Wissen

Sondern man betrachtet die Technik auch als Ausgleich für ein Defizit in der biologischen Entwicklung. Emanuele Coccia ergänzt: „Der Mensch bedarf der Technik, weil sein Körper ein biologisches und natürliches Macht- und Gestaltungsdefizit gegenüber den anderen Lebewesen aufweist.“ Der Mythos schildert, wie Epimetheus, dem aufgetragen war, alle Lebewesen mit geeigneten Fähigkeiten auszustatten und zu schmücken, die vorhandenen Mittel restlos aufbrauchte.

Er hatte die übrigen Tiere weislich bedacht, den Menschen aber nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet gelassen. So kam es, dass Prometheus dem Hephaistos das Feuer und der Athene die Künste und Wissenschaften stahl und dem Menschen das technische Wissen gab. Er ist das einzige unter allen Lebewesen, der Töne und Worte mit Kunst zusammengeordnet, dann Wohnungen und Kleider und Beschuhungen und Lagerdecken und die Nahrungsmittel aus der Erde erfunden hat.

Die Technik ist ein Verjüngungsverfahren

Im Unterschied zu dem, was der Mythos in Szene setzt, wird das technische Faktum in der Metamorphose dasjenige, was jeden Körper befähigt, sich von seiner Entwicklung zu befreien und die originäre Unbestimmtheit nicht zu einem Problem zu machen, das es zu lösen gilt, sondern zur allumfassenden Form der Beziehung alles Lebendigen zu sich selbst. Emanuele Coccia erläutert: „Die Technik dient uns dazu, unsere Besonderheit zu beheben, um zu einem früheren Entwicklungszustand zurückzukehren und sowohl die individuelle als auch die evolutionäre Geschichte aufzuheben.“

Die Technik versorgt mit Kindheit und ist ein Verjüngungsverfahren. Jedes technische Ding ist ein Ei, das der Welt die Jugend stiehlt und sie auf unser Leben pfropft. Emanuele Coccia stellt fest: „Wir bauen technische Dinge, um geteilte Kindheit herzustellen. Und was sich in ihr verjüngt, ist immer das Leben, nicht die Gestalt, die es in unserem Körper transportiert. Verjüngung ist immer unpersönlich.“ Der Kokon als technisches postnatales Ei erlaubt es den Menschen außerdem, die moderne Idee der Technik auf den Kopf zu stellen. Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuel Coccia

Von Hans Klumbies

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