Beim Schutz von Vulnerablen geht Freiheit auf allen Seiten verloren

Die Kennzeichnung von Menschen als vulnerable dient dazu, deren Anliegen und Interessen als besonders bedeutsam zu markieren und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen. Was allerdings eher neu zu sein scheint, ist der Umfang, in dem Vulnerabilitäten ernstgenommen werden. Frauke Rostalski schreibt in ihrem neuen Buch „Die vulnerable Gesellschaft“: „Aktuelle Debatten über Vulnerabilität lassen sich deshalb zugleich für ein Zeichen dafür deuten, dass eine Wertediskussion ansteht und ein Wertewandel im Gang ist – ein Wandel, der nicht zuletzt mit rechtlichen Mitteln vollzogen werden soll.“ Damit tritt aber eine weitere Kategorie auf den Plan, die für das gesellschaftliche Miteinander von besonderer Bedeutung ist: die Freiheit. Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.

Gesetze bescheiden grundsätzlich die individuelle Freiheit

Je verletzlicher sich eine Gesellschaft beziehungsweise ihre Mitglieder begreifen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich vor Risiken durch das Recht schützen wollen. Gesetze, Maßnahmen oder sonstige Rechtsakte bedeuten aber grundsätzlich eine Beschneidung individueller Freiheit. Es liegt daher eine besondere Herausforderung darin, beides miteinander in Einklang zu bringen: das Bedürfnis, Vulnerabilitäten zu schützen – und möglicherweise umfänglicher als bislang –, und die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit einzelner Bürger.

Frauke Rostalski möchte aufzeigen, dass immer dann, wenn der Staat mit seinen Mitteln dafür sorgt, Vulnerable zu schützen, Freiheit auf allen Seiten verloren geht – nicht bloß bei denjenigen, die zu den jeweils „Stärkeren“ gehören. Alle verlieren Freiheit, sobald der Staat eingreift. Dabei vertritt Frauke Rostalski die These, dass Vulnerabilitäten bereits in einer Vielzahl von Gesetzen Einfluss auf die Rechtsentwicklung genommen haben – und zwar weit über die Grenzen der Pandemie oder Fragen der sozialen Diskriminierung hinaus.

Der Diskurs als solcher ist für eine Demokratie essenziell

Vulnerabilitäten spielen eine zunehmende und stetig wachsende Rolle, wenn es um die Veränderung der geltenden Gesetze geht. Es lässt sich sogar sagen, dass Vulnerabilität mehr und mehr zum Leitmotiv von Gesetzesreformen wird. Aus der Analyse von Frauke Rostalski folgt ihre Diagnose, dass sich die Gesellschaft selbst immer mehr in eine vulnerable entwickelt. Kernanliegen des Buches „Die vulnerable Gesellschaft“ ist es, zu eben jenen Aushandlungsprozessen beizutragen, welche die Gesellschaft aktuell und künftig führt, wenn es um Veränderung der geltenden Rechtslage geht.

Am Ende handelt dieses Buch also davon, worüber und wie gesellschaftlich bei gegenwärtigen und künftigen Gesetzesreformen gesprochen werden sollte. Es möchte einen Beitrag leisten zu Inhalt und Ausgestaltung von Debatten – und fußt dabei auf der Einsicht, dass der Diskurs als solcher für eine Demokratie essenziell ist und deren eigentliche Stärke begründet. In der Beobachtung verschiedener Diskurse der jüngeren Zeit drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass eben dieses Kernelement einer lebendigen Demokratie mehr und mehr Störquellen ausgesetzt ist. Risiken drohen dabei gerade von innen: Weil manche die Überzeugung verloren zu haben scheinen, dass es sinnvoll ist, miteinander zu sprechen, selbst wenn das Gegenüber ganz anderer Meinung ist.

Die vulnerable Gesellschaft
Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit
Frauke Rostalski
Verlag: C. H. Beck
Broschierte Ausgabe: 189 Seiten, Auflage 2: 2024
ISBN: 978-3-406-81461-7, 16,00 Euro

Von Hans Klumbies