Menschen können rational über moralische Themen nachdenken

Hinter dem Kategorischen Imperativ verbirgt sich ein ziemlich kompliziertes logisches Argument, an dem Immanuel Kant viele Jahrzehnte gearbeitet hat. Markus Gabriel erläutert: „Die erste Annahme besteht darin, dass wir überhaupt sinnvoll und rational über moralische Themen nachdenken und streiten können. Moralische Fragen sind demnach nicht nur willkürliche Setzungen, Ausdruck einer Laune, dieses oder jenes zu tun.“ Kurzum: Es gibt einiges was ein Mensch tun, und einiges, was er nicht tun soll. Wenn man sich angesichts einer konkreten Option, dieses oder jenes zu tun, fragt, ob man es auch wirklich tun soll, kann man diese Frage dieser Annahme zufolge prinzipiell durchaus beantworten, wie schwierig dies im Einzelnen auch sein mag. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Der moralische Wert einer Handlung lässt sich prüfen

Man kann sich vorstellen, vor einem moralisch relevanten Entscheidung zu stehen, wobei es nicht immer gleich tragisch zugehen muss. Zum Beispiel fragt man sich, ob man in den ICE steigen soll, obwohl man nur ein IC-Ticket hat. Markus Gabriel erklärt: „In einer bestimmten Hinsicht handelt es sich um Betrug, wenn man es tut, allerdings würde man sonst wegen der üblichen Pannen der Deutschen Bahn eine Anschluss verpassen.“ Darf man die Deutsche Bahn also in diesem Fall um ein paar Euro betrügen? Markus Gabriel nennt dies die Bahnfrage.

Um Immanuel Kants Argument dafür nachzuvollziehen, dass man die Deutsche Bahn auf keinen Fall betrügen darf, muss man eine weitere Abstraktion vornehmen. Dazu bezeichnet man eine Handlung, deren moralischer Wert zu prüfen ist, als „H“. Markus Gabriel fügt hinzu: „Wir fragen uns also „H?“. Wenn die Frage „H?“ eine Antwort hat, lautet die Antwort entweder „H“ oder „Nicht-H“. Das entspricht dem obersten logischen Gebot, das für jede Gedankenentwicklung an irgendeiner Stelle gilt.

„Widersprich dir nicht!“ lautet der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch

Dabei handelt es sich um den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, der da lautet: „Widersprich dir nicht!“ Es kann nicht sein, dass man „H“ sowohl tun als auch unterlassen soll, denn das geht nicht. Wenn „H?“ im Bahnfall ist: „Soll ich die Deutsche Bahn um ein paar Euro betrügen?“ Dann ist die Antwort völlig eindeutig: Nein. Markus Gabriel stellt fest: „Doch spätestens jetzt werden einige von Ihnen finden, es könne in moralischen Fragen doch nicht so eindeutig zugehen.“

Wer also meint, man dürfe die Deutsche Bahn unter bestimmten Umständen um ein paar Euro betrügen, beantwortet die Frage: „Soll ich die Deutsche Bahn um ein paar Euro betrügen?“ mit: Ja. Eine weniger scharfe Frage lautet: Ist es moralisch erlaubt, die Bahn unter bestimmten Umständen um ein paar Euro zu betrügen? Diese Frage lässt sich laut Markus Gabriel nicht beantworten, wenn man nicht weiß, was die Umstände sind, unter denen man Betrug in Betracht zieht. Quelle: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies

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