Nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine moralische Revolution eingesetzt

Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Welt eine unvorstellbare moralische Revolution erlebt, eine Erfolgsgeschichte des Guten, von der Umsetzung der Menschenrechte bis hin zur Verbreitung von Demokratie und Freiheit. Philipp Hübl fügt hinzu: „Gleichzeitig sind Krieg, Gewalt, Krankheiten, Armut und Hunger dramatisch zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdopplung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat.“ Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben zwar immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das ist weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

Viele Menschen glauben an den moralischen Verfall der Welt

Noch 1970 waren etwa 30 Prozent der Menschen in den ärmsten Ländern der Welt unterernährt, heute sind es etwa zehn Prozent. Dennoch glaubt die Mehrheit der Menschen, die Weltlage habe sich verschlechtert. Philipp Hübl ergänzt: „Und obwohl die Menschenrechte besser geschützt werden als jemals zuvor, sind sich Leute in allen Erdteilen darin einig, dass die Welt moralisch verfällt, wie eine Studie mit 12 Millionen Befragten in 60 Ländern über die letzten 70 Jahre zeigt.“

Ganz gleich, in welcher Weltregion man nachfragt, überall geht ein Großteil der Bevölkerung davon aus, dass Menschen heute weniger ehrlich, freundlich und hilfsbereit sind als noch vor wenigen Jahrzehnten. Philipp Hübl stellt fest: „Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wie alle großen Untersuchungen zu diesem Thema belegen. Befragt man allerdings Personen in ihrem Nahbereich, sieht die Sache ganz anders aus: Sie schätzen ihr Umfeld heute genauso positiv ein wie vor 20 Jahren.“

Die Medien berichten selten über den sozialen Fortschritt

Diese Fehleinschätzung kann man übrigens in allen politischen Lagern messen, wobei Konservative am stärksten von einem allgemeinen Werteverfall ausgehen. Dass viele Menschen die beispiellose Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre als Niedergang erzählen, ist das große Moralparadox der Gegenwart. Einer der Gründe für diesen Irrtum ist ein Wahrnehmungsfehler. Philipp Hübl erklärt: „In den Medien und in der Öffentlichkeit geht es vor allem um drastische Ereignisse und eklatante Missstände, die es immer noch gibt.“

Dagegen thematisieren die Nachrichten selten den sozialen Fortschritt, der sich stetig und langsam vollzieht. Philipp Hübl erläutert: „Wer nur von den Nachrichten der Tagesschau ausgeht, ohne die Daten zur Weltlage zu kennen, muss den Eindruck gewinnen, dass alles schlimmer wird. Doch das ist ein Irrtum, der durch selektive Wahrnehmung zustande kommt. Und diese Urteilsverzerrung ist weit verbreitet.“ Bei Intellektuellen ist die Urteilsverzerrung übrigens am stärksten ausgeprägt. Quelle: „Moralspektakel“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies