Ein Wissenschaftler versucht die Welt zu verstehen

Der Wissenschaftler denkt menschlich – wie sollte es auch anders sein. Er beurteilt und bewertet die Welt und den Menschen aus seiner Perspektive. Er sucht die Welt zu verstehen, die Naturgesetze zu nutzen, um die Bedingungen des menschlichen Lebens zu verbessern und um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Der Wissenschaftler dient allgemein menschlichen Zielen, sucht seinen Beitrag zum Gelingen des menschlichen Zusammenlebens zu erbringen. Paul Kirchhof weiß: „Deshalb ist er offen für alle Formen menschlichen Erfahrens, Messens, Beurteilens, Verstehens. Eine Beschränkung auf nur eine Form menschlichen Erkennens wäre einengend, widerspräche der vernünftigen und beherzten Freiheit.“ Dies gilt auch für eine Erfahrungswissenschaft, die ihre Fragestellungen nicht nur den Erkenntnisformen der Kausalität, des Experiments, der rationalen Erfahrung und Berechenbarkeit verdankt. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

Menschen handeln oft wider der Vernunft

Das verbreitete naturwissenschaftliche Postulat einer rein empirischen Vernünftigkeit verfolgt zwei Zwecke. Ersten sucht es die Verlässlichkeit und Nachvollziehbarkeit eigenen Forschens dadurch zu steigern, dass es die Ungewissheiten des Menschlichen ausblendet. Nämlich das Handeln nach subjektivem Willen und freiheitlicher Unberechenbarkeit. Dazu kommt die Abhängigkeit des Menschen von Neigungen wider die Vernunft sowie die fehlende Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen.

Paul Kirchhof stellt fest: „Der Wissenschaftler strebt nach systemeigener Vernünftigkeit und logischer Stringenz durch eine gedankliche Selbstbeschränkung.“ Die Beschränkung des Denkens auf naturwissenschaftliche Kausalität und Berechenbarkeit verfolgt den zweiten Zweck, die Menschen von Instinkten, hergebrachten Vorurteilen, unreflektiert moralischen Gewohnheiten zu befreien. Dieses Aufklärungsanliegen ist notwendig. Auch der Wissenschaftler lebt in einer Welt, die wesentlich von menschlichen Wollen und Entscheiden bestimmt ist. Wissenschaftlichkeit ist die Antwort auf die Subjektivität des Menschen, bestreitet nicht den objektiven Befund dieser Wirklichkeit.

Die Philosophie weitet das Einfache ins Vielfältige

Die Idee der Freiheit ist von Einsichten herausragender Denker bestimmt, die ihre Zeit und die Entwicklung der Menschheit geprägt haben. Die individuelle Einsicht in Wirklichkeit und Wahrheit ruht aber nicht nur auf den Schultern der Vorgänger. Sondern sie hat sich auch fortentwickelt in der gegenwärtigen Rechtsgemeinschaft, den gemeinsamen Vorstellungen vom guten Zusammenleben und traditionell verbindlichen Werten. „Sensus communis“ meint den gemeinschaftlichen Sinn, den die Kunst stützt, etwas gut zu sagen, das Wahre, das Richtige zum Ausdruck zu bringen.

Die Naturwissenschaft zerschneidet die Natur durch Experiment und Berechnung, gewinnt dadurch Einsicht in die Struktur der Natur. Die Lebenskunst der Philosophen greift dagegen im sensus communis auf das Leben zurück. Paul Kirchhof erläutert: „Sie weitet das Einfache ins Vielfältige; aus dem Baum wird der Wald. Sie macht aus Vertrauen ein Wagnis; aus dem Heilversuch wird ein Heilexperiment. Lebenskunst lenkt das Individuelle ins Allgemeine; aus dem Bürger wird das Staatsvolk.“ Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof

Von Hans Klumbies

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