Vor der Politisierung gibt es kein Entkommen

Pauline Voss vertritt in ihrem Buch „Generation Krokodilstränen“ die These, dass es heutzutage eine Politisierung gibt, vor der es kein Entkommen gibt: Sprache, Essen, Freizeit, Liebe, Sex, Kindererziehung, Fortbewegung, Konsum – alles steht unter Beobachtung. Pauline Voss ergänzt: „Wo wir früher Entscheidungen trafen, lastet heute das gesamte Gewicht der politischen Gegenwart auf uns und presst noch der unbedeutendsten Alltagshandlung ein politisches Bekenntnis ab.“ Eine solche Politisierung engt ein. Sie öffnet dem Individuum keinen Raum für politische Forderungen, sondern stellt Forderungen an das Individuum. Es ist ein Zugriff der Politik auf das Privatleben. Warum aber beteiligen sich so viele junge Menschen an diesem Zugriff? Wie entstand eine Generation von Missionaren? Bei der heutigen Polarisierung ist an die Stelle der eigenen Interessen die Scham als Leitmotiv für politisches Handeln getreten. Pauline Voss ist seit 2023 als freie Journalistin tätig.

Der Generation Krokodilstränen fehlt der Zugang zu vielen ihrer Probleme

Die „Generation Schneeflocke“ widmet sich Problemen mit wachsender Dringlichkeit, je weiter diese von der eigenen Realität entfernt sind. Auf der anderen Seite beschäftigt sie sich nur mit eigenen Befindlichkeiten und der Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Pauline Voss hält das für eine Täuschung: „In den meisten Fällen handelt es sich um die Simulation von Bedürfnissen, deren Erfüllung dann mit Furor eingefordert wird. Viele der Tränen, die meine Generation weint, sind Krokodilstränen.“

Die Generation Krokodilstränen hat für ihren eigenen Schmerz noch kaum eine Ausdrucksform gefunden. Dieser Generation fehlt der Zugang zu vielen ihrer Probleme. Denn sie hat politisches Engagement nicht primär als Artikulation von Interessen erlebt, sondern als Bewirtschaftung des schlechten Gewissens. Ihr wurde nicht beigebracht, wie man Wohlstand und Sicherheit verteidigt, sondern wie man sich dafür schämt. Diese Scham aber macht sie anfällig für den ideologischen Zugriff von außen.

Es herrscht ein Wettbewerb des Klagens

Die Pointe der postmodernen geprägten Gesellschaft liegt darin, dass im Diskurs jeder ständig durch einen Schwächeren geschlagen werden kann. Entscheidend ist, dass es sich dabei um eine Performance von Schwäche handelt, keine tatsächliche Schwäche. Denn nicht jeder der weint, ist ein Verwundeter. Die Allgegenwart der Diskriminierungshypothese befeuert einen Wettbewerb des Klagens, der sich auch ökonomisch auszahlt. An den Universitäten werden ständig neue Jahrgänge in der Kunst der Krokodilstränen geschult.

Das Buch „Generation Krokodilstränen“ von Pauline Voss entschlüsselt die Machttechniken der jungen woken Generation anhand einer Neuinterpretation des Philosophen Michel Foucault. Dieser lehrt, die Metaphern des Diskurses und der Rollen zu deuten. Was würde Michel Foucault heute über die Machttechniken des Wokeness sagen? Die Antwort von Pauline Voss lautet: „Er würde den Diskurs untersuchen, um ihn zu verstehen – niemals um sich seinen Regeln zu unterwerfen.“

Generation Krokodilstränen
Über die Machttechniken des Wokeness
Pauline Voss
Verlag: Europa Verlag
Gebundene Ausgabe: 199 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-95890-613-6, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies