Der Antihumanismus ist auf dem Vormarsch

In seine Vorlesungen 1901 – 1902 analysierte der Philosoph William James, wie ein gewisser Prozess in der Religion abläuft. Da ist zuerst das Unbehagen, „das Gefühl dass mit uns in unserem natürlichen Zustand irgendetwas nicht stimmt“. Befreiung aus diesem Unbehagen bietet die Religion: „Die Befreiung besteht aus dem Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn wir mit den höheren Mächten in die richtige Verbindung treten.“ Dies geschieht jedoch nicht nur in der Religion, sondern auch in der Politik. Sarah Bakewell nennt ein Beispiel: „Im 20. Jahrhundert erklärten die Faschisten, mit der gegenwärtigen Gesellschaft stimme etwas nicht, was jedoch behoben werden könne, wenn das persönliche Leben den Interessen des Nationalstaats untergeordnet würde.“ Sarah Bakewell lebt als Schriftstellerin in London, wo sie Creative Writing an der City University lehrt und für den National Trust seltene Bücher katalogisiert.

Faschismus und Kommunismus nahmen den Menschen ihre Werte

Auch die kommunistischen Regime diagnostizierten Fehler im kapitalistischen System und schlugen vor, sie durch eine Revolution zu eliminieren. Sarah Bakewell erläutert: „Auch wenn die neue Gesellschaft eine Zeitlang durch Anwendung von Gewalt gestützt werden müsse, werde die Gesellschaft in ein ideologisches gelobtes Land geführt und in einen Stand der Gnade versetzt, wo es keine Ungleichheit und kein Leid mehr gibt.“ Beide Systeme waren offiziell nicht theistisch, allerdings nur insofern, als sie Gott durch etwas ähnlich Transzendentes ersetzten.

Als Ersatz diente der nationalistische Staat beziehungsweise die marxistische Theorie und einer auf den Führer konzentrierter Personenkult. Sarah Bakewell ergänzt: „Faschismus und Kommunismus nahmen den Menschen ihre Freiheiten und ihre Werte und boten ihnen dafür die Chance, sich auf eine höhere Sinnstufe zu erheben, auf die Stufe der „wahren“ Freiheit.“ Wann immer politische Führer oder Ideologien das Gewissen, die Freiheit und das Denken realer Menschen mit dem Versprechen von etwas Höherem außer Kraft setzen, ist wahrscheinlich der Antihumanismus auf dem Vormarsch.

Humanistisches und antihumanistisches Denken haben einander bekämpft

Der Gegensatz zwischen Humanismus und Antihumanismus war nie exakt identisch mit dem Gegensatz zwischen Religion und Zweifel. So wie es Atheisten gibt, die antihumanistisch sind, gibt es in den meisten Religionen nach wie vor humanistische Elemente, die vom Erbsünde-/Erlösungsmodell weit wegführen. Sarah Bakewell weiß: „Oft ist es ein Balanceakt. Selbst Innozenz III. beabsichtige offenbar, nach seinem Traktat über das Elend des Menschen auch einen über die menschliche Vortrefflichkeit zu schreiben.“

Er hat es aber aufgrund seiner Hauptaktivitäten – der Ketzerverfolgung und der Aufrufe zum Kreuzzug – nicht geschafft. Sarah Bakewell stellt fest: „Wir Menschen haben einen langen Tanz mit uns selbst getanzt: Humanistisches und antihumanistisches Denken haben einander bekämpft, aber auch erneuert und beflügelt.“ Oft findet man beides sogar in ein und derselben Person. Ein solcher innerer Balanceakt ist gar nicht so schlecht. Der Antihumanismus mahnt einen Menschen zum Beispiel, nicht eitel oder selbstgefällig zu sein, und ruft einem die eigenen Schwächen und Schändlichkeiten in Erinnerung. Quelle: „Wie man Mensch wird“ von Sarah Bakewell

Von Hans Klumbies