Die Liebe ist das schwarze Loch aller moralischen Überlegungen

Emanuele Coccia weiß: „Dass es so schwer ist, über die Liebe – und damit über das Zuhause – nachzudenken, liegt allerdings nicht nur an der Zerbrechlichkeit und moralischen Blindheit unserer Kultur. Vielmehr ist die Liebe schon aufgrund ihrer Beschaffenheit das schwarze Loch aller moralischen Überlegungen.“ Denn sie ist der ethische Raum, in dem sich das Leben nicht auf Vorschriften, Gesetze oder Gewissheiten stützen kann. Der Grund dafür ist jedoch nicht ihr vermeintlich anarchisches Wesen, denn in Wahrheit gibt es nichts Strukturierteres als die Erfahrung der Liebe. Aber es ist eine besondere Struktur. In der Antike bezeichnete man moralische Kategorien wie diese üblicherweise als „Mysterien“, als Bereiche der Existenz also, in denen man sich nicht auf Wissen oder Gesetzmäßigkeiten verlassen kann, sondern in die man eingeweiht werden muss. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Das Mysterium entzieht sich dem Erkennen und dem Begehren

„Mysterium“ meint in diesem Zusammenhang nicht etwas Unbekanntes. Emanuele Coccia erklärt: „Schließlich existieren unzählige Realitäten, die sich unserer Kenntnis entziehen, ohne deshalb gleich ein Mysterium zu sein. Die meisten Gesichter, denen wir auf den Straßen der Städte begegnen, sind uns unbekannt, und doch ist kaum eines von ihnen ein Mysterium für uns.“ Nicht einmal die abertausend Bücher einer Bibliothek haben diese Qualität.

Das Mysterium bezeichnet weit mehr als nur den Mangel an Wissen über eine Sache, denn es ist etwas, das sich dem Erkennen und vor allem dem Begehren entzieht. Emanuele Coccia erläutert: „Deshalb kann nur der Eingeweihte Zugang zum Mysterium erlangen, denn es bedarf einer dritten Person, um uns diese Realität erleben zu lassen. Das Mysterium ist das Leben, das nur durch das Leben anderer zugänglich wird.“ Genau deshalb ist es letztlich nicht zu erkennen, und genau deshalb wird sich das Begehren niemals von der Angst befreien können.

Angst überwindet man üblicherweise mit Wissen

Denn das Wissen, mit dessen Hilfe man üblicherweise die Angst überwindet, ist in diesem Fall unerreichbar. Die Liebe ist die transzendente Form dieser Erfahrung. Emanuele Coccia fordert: „Das Zuhause sollte die Struktur sein, die es einem Leben erlaubt, durch das andere zu leben. Es darf nicht nur eine Hülle aus Glas, Stahl und Beton sein, die uns vom Rest der Welt separiert, und auch keine Auslage mit variabler Geometrie, in der wir uns selbst, unser Ich, vor uns selbst zur Schau stellen können.“

Stattdessen sollte das Zuhause eine wechselseitige psychisch-materielle Initiationsübung verschiedener Leben sein, die dem Mysterium eine weltliche, profane Struktur verleiht. Emanuele Coccia stellt fest: „Wir kommen aus einer Bautradition, die bestrebt ist, den Wohnraum dem menschlichen Körper im streng anatomischen Sinne anzupassen, und die technische Hilfsmittel seit jeher als Erweiterung des menschlichen Körpers und seiner Organe betrachtet.“ Quelle: „Das Zuhause“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies

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