William Blake schuf eine Synthese zwischen Poesie und Malerei

Grenzüberschreitungen sind Kern aller romantischen Programmatiken, ob es sich nun um Grenzen zwischen Künsten, Genres, Religionen oder Ländern handelt. Ein besonders radikales Beispiel für diese widerständige Dynamik ist der englische „painterpoet“ William Blake (1757 – 1827), der den Grenzgang zwischen Poesie und Malerei zum Programm machte. Jürgen Wertheimer erklärt: „In seinem großen Epos „Milton“ spricht er von seinem Verfahren als einer göttlichen Enthüllung, die sich in den Worten zeige. Geschriebene Bilder und gemalte Schrift als ultimative Synthese.“ Die Übergänge werden fließend: Figuren, Ornamente, Schriftzüge durchdringen einander. Gezeichnet, geschrieben, geätzt, gedruckt, schließlich koloriert, als Buchstaben und als Figuren, in Schrift und Bild, normativ voneinander getrenntes verbindend. Das Resultat dieses Zusammenspiels von Botschaft, Formensprache und Technik ist gleichermaßen faszinierend wie befremdend. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Die Matrix gebiert Monster des Systems

In seiner Zeit war William Blake eine eher marginalisierte künstlerische Existenz, obwohl er punktgenau innerhalb der auf Grenzüberschreitung angelegten Poetik der Romantiker arbeitete. Jürgen Wertheimer erläutert: „Manch einem erschien Blake als zu radikal, andere verurteilten seine gewollte Naivität als Dilettantismus. Was als Akt der Invention und Kreation mit einer Figur begann, entwickelt sich frei weiter.“ Formen bilden Geometrien, Geometrien produzieren Symmetrien.

Symmetrien wiederum stellen Komplexe dar, die danach fordern, benannt zu werden: Die Matrix gebiert Monster des Systems. Es entstehen Mythen und Figuren nach komplizierten Mustern, die sich selbsttätig reproduzieren. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Es entwickeln sich Mutanten, Blake nennt sie „Zoos“, die elementare seelischen und körperliche Aspekte des Menschen personifizieren.“ Diese Figuren entfalten ihre Eigenschaften und Komplexität mit- und gegeneinander, verändern sich, verschwinden und tauchen wieder auf, wie in einem sich ständig bewegenden Kaleidoskop.

Bei Charles Baudelaire geht der Mensch durch „Wälder von Symbolen“

Komplementär, kontrastiv, analog, binär – die Figuren-Konstellationen lassen immer neue Zusammenhänge innerhalb eines ständig fluktuierenden, ständig neue Sinnbezüge herstellenden Ganzen entstehen. Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Sie bilden als gezeichnete Figuren gleichsam ein körpersprachliches Alphabet. Auch in diesem Bemühen steht Blake nicht alleine da.“ Für Symbolisten wie Charles Baudelaire etwa wird die Natur zum Tempel mit „lebendigen Pfeilern“, in dem der Mensch durch „Wälder von Symbolen“ geht, die ihm halbverschlüsselte Botschaften senden.

Und die Hieroglyphen einer überzeitlichen Bildschrift werden zu den Mitteilungsträgern, welche die Vermittlungsbrücke bis hin zur Gegenwart schlagen. Jürgen Wertheimer weiß: „Noch Ingeborg Bachmanns wild-mythische Franza hat den Eindruck, sie könnte fast mühelos die die ägyptischen Hieroglyphen lesen.“ Es findet sich da in der Moderne eine Gruppe zivilisationskranker, vom Rationalismus enttäuschter poetischer Sinnsucher und Spurenleser zusammen, die mehr wollen, als gute Texte zu lesen und/oder hübsche Bilder zu sehen beziehungsweise feinsinnige Kunstgespräche führen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies